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Corona lässt soziale Unterschiede wachsen

12. August 2020

In der Corona-Pandemie ist nicht nur die Gesundheit bedroht, die Krise verändert auch das Zusammenleben in der Gesellschaft. Wie sehr, das hat die Bertelsmann-Stiftung in einer Studie untersucht. Das Ergebnis alarmiert.

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Deutschland Symbolbild Hilfe in der Corona-Pandemie
Bild: picture-alliance/dpa/S. Schuldt

Es waren rund 20.000 Menschen, die am ersten August-Wochenende protestierend durch Berlin zogen. "Für die Freiheit" lautete das Motto, unter dem sich eine bunte Mischung aus Corona-Leugnern, Impfgegnern, Verschwörungstheoretikern, aber auch Rechtsradikalen versammelt hatte. Ähnliche Demonstrationen fanden und finden auch in anderen deutschen Städten statt. Doch so provokant der Protest auch anmutet: Es ist eine Minderheit in Deutschland, die sich offen gegen die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie stellt und sie ablehnt.

Die Mehrheit der Bürger vertraut in die Maßnahmen der Regierungen, sei es auf Bundes-, Landes oder Kommunalebene. Im Kampf gegen die Pandemie ist zudem der Zusammenhalt in Deutschland gewachsen. Das geht aus der Studie "Radar gesellschaftlicher Zusammenhalt 2020" der Bertelsmann Stiftung hervor.

Infografik Vertrauen und Zusammenhalt in Deutschland DE

Corona wirkt wie ein Brennglas

Zu drei verschiedenen Erhebungszeitpunkten haben die Wissenschaftler in Telefoninterviews rund 3000 Bürger repräsentativ befragt und eine Studie für die Bevölkerung ab 16 Jahren erstellt. Die Daten wurden mit den Ergebnissen aus dem Jahr 2017 verglichen. Dabei kamen sie zu zwei zentralen Erkenntnissen: Die Menschen in Deutschland bewerten den gesellschaftlichen Zusammenhalt nach dem ersten Höhepunkt der Corona-Pandemie positiver als noch Anfang des Jahres.

Zugleich aber macht die Ausnahmesituation soziale Unterschiede sichtbarer und verschärft die Probleme bestimmter Bevölkerungsgruppen. "Wie unter einem Brennglas lässt Corona bereits bestehende soziale Verwerfungen noch deutlicher zum Vorschein kommen", sagt der Soziologe Kai Unzicker von der Bertelsmann-Stiftung. "Wer vorher schon benachteiligt war, für den stellt sich die Lage in der Krise noch schwieriger dar."

Wie misst man gesellschaftlichen Zusammenhalt?

Auch wenn die Lebensverhältnisse in Deutschland oberflächlich betrachtet relativ homogen erscheinen gibt es doch beträchtliche Unterschiede. Sie hängen nicht nur davon ab, wie gut ausgebildet, wie alt, wie reich oder arm die Menschen sind. Maßgeblich ist auch, in welchem Bundesland sie leben und ob sie in der Stadt oder auf dem Land zuhause sind. Vom Wohnort hängt beispielsweise ab, wie gut die Infrastruktur ist, also ob es in der Nähe ausreichend Kindergärten und Schulen gibt und ob die digitale Anbindung gut funktioniert. Das alleine führt bereits dazu, dass manche Menschen den Alltag leichter oder schwerer bewältigen können und ihr Leben dementsprechend unterschiedlich bewerten. 

Infografik Parameter gesellschaftlichen Zusammenhalts in Deutschland DE

Hinzu kommen persönliche Einstellungen, die natürlich auch Einfluss darauf haben, wie man Krisen bewältigt. 

Entscheidend sind die Umstände

Als entscheidend für das Zusammenhaltsgefühl der Menschen nennt die Studie die persönliche Lebenseinstellung, gefolgt von der sozialen und ökonomischen Lage sowie dem politischen Halt. Ob jemand in Bayern oder in Mecklenburg-Vorpommern lebt, hat hingegen weniger Einfluss. Allerdings zeigt sich: Die Unterschiede zwischen den im Osten und im Westen der Republik lebenden Bürgern haben zugenommen. 30 Jahre nach dem Fall der Mauer wird der gesellschaftliche Zusammenhalt in Deutschland auf dem Gebiet der früheren DDR deutlich geringer eingeschätzt als in den alten Bundesländern.  

Grundsätzlich stellt die Studie fest, dass Menschen weniger Miteinander sehen, je jünger und weniger gebildet sie sind - und je weniger Geld sie zur Verfügung haben. Umgekehrt gilt, dass mit steigendem Wohlstand, der verständlicherweise oft in höherem Lebensalter erreicht wird, der Zusammenhalt als sehr viel ausgeprägter wahrgenommen wird. Diejenigen Befragten, die den Zusammenhalt am stärksten wahrnehmen, machen 20 Prozent der Bevölkerung aus. Sie sind älter, gebildeter, haben ein höheres Einkommen und wohnen in den meisten Fällen eher in Klein- und Mittelstädten als in Großstädten.

Viele fühlen sich allein gelassen

Doch nicht nur Geld und der Bildungsgrad spielen eine Rolle. Auch Menschen mit Migrationshintergrund beurteilen den Zusammenhalt in Deutschland tendenziell weniger optimistisch - vor allem wenn sie in erster Generation in Deutschland leben. Das gilt auch für vergleichsweise viele, die alleine leben, alleine erziehen sowie für Menschen mit Behinderungen. In der Corona-Krise hat sich bei ihnen das Gefühl verschärft, benachteiligt zu sein und alleine gelassen zu werden.

Infografik Soziale Unterschiede und Zusammenhalt in Deutschland DE

Ein Blick auf die politischen Präferenzen zeigt: Anhänger von Bündnis90/Die Grünen, CDU, CSU, SPD und FDP bewerten den Zusammenhalt deutlich positiver als Anhänger der Linkspartei und insbesondere der rechtsgerichteten AfD. Dabei zeichnen sich die Anhänger der AfD vor allem dadurch aus, dass sie generell skeptisch sind, Vielfalt seltener akzeptieren und kaum Vertrauen in Institutionen haben. Wenig überraschend: Anhänger der Linkspartei empfinden im Vergleich am häufigsten Defizite bei der sozialen Gerechtigkeit.

Zu Beginn der Pandemie waren die Ängste größer

Maßgeblich bei der Einschätzung des Zusammenhalts sind auch Persönlichkeitsmerkmale: also Ängste, Verunsicherungen und die Fähigkeit, mit Krisen umzugehen. Die Verfasser der Studie haben einen Zusammenhang diagnostiziert zwischen Zukunftsangst und dem Erleben eines geringen Zusammenhalts erleben. Es zeigt sich aber, auch: Die Angst vor den negativen Folgen der Corona-Pandemie hat im Verlauf der drei für die Studie durchgeführten Befragungsrunden abgenommen.

Infografik Das macht Deutschen Angst DE

"Wir verzeichnen einen Aufschwung bei der allgemeinen Stimmungslage in unserer Momentaufnahme bis Anfang Juni", sagt Kai Unzicker von der Bertelsmann-Stiftung. "Viele Menschen sind zunächst erleichtert, dass die ersten Auswirkungen der Pandemie in ihren Augen bisher so glimpflich ausgefallen sind."

Um die Schwachen kümmern

Immerhin über 90 Prozent der Teilnehmer der Wiederholungsbefragung (Mai/Juni) gab an, mit der Corona-Situation gut klar zu kommen. Bei genauerem Hinsehen lassen sich aber deutliche Unterschiede erkennen. Wer bereits vor der Krise einen hohen Zusammenhalt erlebte, machte sich im Frühsommer geringere Sorgen um ihre eigene Zukunft oder die ihrer Familie, fühlte sich seltener einsam und hatte weniger den Eindruck, die Pandemie belaste das Zusammenleben.

Die Empfehlung der Studienautoren: Politik und Gesellschaft sollten sich stärker um ebenjene Bevölkerungsgruppen kümmern, die ein geringeres Maß an Zusammenhalt erleben und denen nur eine schwächere soziale Infrastruktur zur Verfügung steht.

Bertelsmann-Stiftung Dr. Kai Unzicker
Kai Unzicker will die Abgehängten stärker in den Blick nehmenBild: Thomas Kunsch

"Gerade durch die Erfahrungen der aktuellen Krisensituation drohen vor allem Alleinerziehende, Migranten und Personen mit geringerer Bildung aus dem sozialen Gefüge herauszufallen", warnt Kai Unzicker. Sollte sich beispielsweise die Situation bei der Kinderbetreuung oder dem Homeschooling in nächster Zeit nicht deutlich verbessern oder gar wieder verschärfen, so gehe dies vor allem zu Lasten dieser Gruppen. Armut und prekäre Lebensverhältnisse seien die größte Bürde für den Zusammenhalt in der Gesellschaft.