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Politik

"Ferhat wollte etwas Gutes für Hanau tun"

Helena Kaschel z.Zt. Hanau
21. Februar 2020

Was folgt auf den rassistischen Terror? Nach dem Anschlag in ihrer Stadt schauen Hanauer mit ausländischen Wurzeln mit gemischten Gefühlen in die Zukunft. Für die Familie von Ferhat Unvar steht die Welt still.

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Deutschland Migranten in Hanau
Teelichter und Blumen für Ferhat Unvar: Die kurdische Gemeinde in Hanau trauert um den ermordeten 23-JährigenBild: DW/H. Kaschel

An Tag zwei nach dem rechtsextremen Anschlag in Hanau scheint wieder so etwas wie Alltag in die Straßen rund um den zentralen Heumarkt einzukehren. Unweit der noch immer mit Flatterband abgesperrten "Midnight"-Bar gehen Menschen unterschiedlichen Alters und unterschiedlicher Herkunft an Bäckereien, Drogeriemärkten und Banken vorbei.

Nur wenige Meter vom Tatort entfernt befindet sich der Lebensmittelladen von Mustafa Bayram. Der 59 Jahre alte türkische Kurde sitzt umgeben von Baklava, verpackten Datteln und Sonnenblumenkernen hinter einer Glastheke. "Ich bin schon über fünf Jahre hier. Ich habe keine Angst. Warum sollte ich Angst haben, wenn ich mich mit den Kunden, mit den Leuten gut verstehe?" Bayram lebt seit 1978 in Deutschland. Bis auf einen Diebstahl sei ihm noch nie etwas passiert.

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Mustafa Bayram verkauft in seinem Lebensmittelladen auch FleischBild: DW/H. Kaschel

Eine Journalistin, so erzählt er, habe ihn gefragt, ob er sich nach der Bluttat vom Mittwochabend Polizeischutz für sein Geschäft wünsche. Er verneint. "Warum sollten Polizisten kommen und zwölf Stunden mit mir zusammen draußen warten? Wenn einer Angst hat, kann er zu Hause bleiben, kann nicht mehr aufstehen und rausgehen. Wenn etwas passiert, passiert etwas. Ich glaube aber nicht, dass etwas passiert."

Wunsch nach mehr Schutz

Bundesinnenminister Horst Seehofer hat vor dem Hintergrund des Attentats vom Mittwochabend eine stärkere Polizeipräsenz in ganz Deutschland angekündigt. Die Bundespolizei werde die Polizeibehörden der Länder an Flughäfen, Bahnhöfen und Grenzen unterstützen. Moscheen und andere "sensible Einrichtungen" würden verstärkt überwacht werden, erklärte der CSU-Politiker. Der Zentralrat der Muslime in Deutschland forderte einen "sichtbaren Schutz" vor Moscheegemeinden.

Saban Sakalikaba dürften die verstärkten Sicherheitsmaßnahmen zumindest zum Teil entgegenkommen. Der 32-Jährige arbeitet in einem türkischen Herrenfriseursalon, sein Bruder führt den Laden. Sakalikaba bietet Chai an, setzt sich für ein kurzes Interview am hinteren Ende des Salons hin, im Hintergrund ist das Geräusch eines elektrischen Rasierers zu hören. "Wenn jetzt hier jemand reinkommt, guckt man vorsichtig, weil das, was in den Shisha-Bars passiert ist, auch bei uns im Laden passieren könnte."

Deutschland Migranten in Hanau Saban Sakalikaba
Wünscht sich mehr Polizeipräsenz in den Straßen von Hanau: Saban SakalikabaBild: DW/H. Kaschel

Der großgewachsene Friseur, der in der Türkei geboren wurde und seit seinem neunten Lebensjahr in Deutschland lebt, wünscht sich nach dem Anschlag, der sich nur wenige Gehminuten von seinem Arbeitsplatz zutrug, "dass es mehr Schutz gibt in den Geschäften, dass es jetzt vielleicht auch mal mehr in den Straßen mehr Polizisten gibt, dass in den nächsten Wochen ein bisschen Sicherheit einkehrt."

Dass ein Mensch in seiner Heimatstadt, die er als "multikulti" beschreibt, neun Menschen aus rassistischem Motiv töten würde, hätte er sich nicht vorstellen können. "Das hier ist ein türkischer Friseur. Es kommen Leute aus allen Nationen zu uns. Deutsche, Italiener, Türken, Kurden, Araber, Leute aus Afrika. Wir sind mit Jedem gut." 

"Genau jetzt müssen wir Stärke zeigen"                    

Auch Safia Shams, eine 18-jährige Schülerin mit afghanischen Wurzeln, hätte ein Attentat wie das vom Mittwochabend "gerade in einer Stadt wie Hanau, die für ihre Vielfalt und fürs Multikulturellsein bekannt ist, niemals erwartet". Am Tag nach dem Anschlag hätten sich einige ihrer Mitschüler nicht in die Schule getraut, erzählt sie vor einem Kleidungsgeschäft. "Genau jetzt müssen wir Stärke zeigen", findet Shams. Die Menschen müssten demonstrieren, dass sie "gegen Hass, gegen Terror" stehen. 

Von der Politik wünscht sich die junge Frau, die nach dem Abitur Jura oder Zahnmedizin studieren will, "mit den Kommentaren, die von der AfD kommen, dass man da viel mehr dagegen tut und zeigt, wofür Deutschland eigentlich steht, was Deutschland ausmacht, was die deutschen Werte ausmachen, was unsere Demokratie und unsere Freiheit hier ausmacht."

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Safia Shams hofft, dass sich Politik und Zivilgesellschaft in Zukunft noch klarer gegen Rechtsextremismus positionierenBild: DW/H. Kaschel

Als Deutsche mit Großeltern, die in ihr Heimatland eingewandert sind, sei ihr Alltagsrassismus nicht fremd, sagt Shams. Bis heute merke sie, "dass es für mich viel schwieriger ist, zum Beispiel als Jugendliche einen Nebenjob zu finden oder an Blicken oder Kommentaren auf der Straße. Leider existiert das noch, selbst in einer Stadt wie Hanau, die sehr nah bei Frankfurt liegt, wo ja viele mit Migrationshintergrund leben."

Der Großvater baute die Straßen von Hanau, der Enkel installierte Heizungen

In einem Industriegebiet rund fünf Autominuten vom Heumarkt entfernt sitzen Männer und Frauen mit Chai und Kaffee auf Bänken vor einem orangefarbenen Bungalow mit Spitzengardinen. Ein abblätternder Schriftzug ziert ein Schild auf dem Gebäude: "State Side Insurance" steht da - und "Auto Shipping".

Tatsächlich ist hier ein kurdischer Verein untergebracht. In einem Saal stehen Softdrinks und Obst auf langen Tischen. Auf einem Tisch am hinteren Ende des Raums ist aus Teelichtern der Name "Ferhat" geformt. Darüber hängen Bilder des 23-jährigen Ferhat Unvar, der am Mittwochabend beim Zigarettenholen im Kiosk im Stadtteil Kesselstadt erschossen wurde.

Erst allmählich realisiere die Community das Ausmaß der Tragödie, "dass uns die Menschen fehlen, dass sie für immer weg sind", sagt Aydin Yilmaz, ein Cousin von Ferhat Unvars Vater. "Wir werden nicht mehr dieses Klirren von Spaß und Lachen hören, gemeinsam sitzen, gesellige Abende verbringen in Shisha-Bars."

Ferhat, der mit zwei Brüdern und einer Schwester aufgewachsen ist und gerne Fußball spielte, sei ein friedvoller und weltoffener Mensch gewesen, "ein junger Mann, der Visionen hatte, der Vorstellungen von seiner Zukunft hatte", sagt Yilmaz. Erst kürzlich habe er seine Ausbildung als Heizungsinstallateur abgeschlossen und sich selbstständig machen wollen. Während Yilmaz spricht, ist ein durchdringendes, lautes Weinen zu hören - in einem Nebenraum sitzen weitere Familienangehörige des Ermordeten. "Ferhat wollte etwas Gutes für Hanau tun. Sein Opa hat die Straßen von Hanau gebaut damals als Gastarbeiter. Ferhat wollte den Menschen ein warmes Zuhause geben." Jetzt sei sein eigenes Zuhause kalt.

"Wir sind alle Ferhats"

Ob er sich als Bürger mit Migrationshintergrund ausreichend geschützt fühle? "Wenn wir in Not sind, rufen wir selbstverständlich die Polizei und die wird auch nach wie vor unser Freund und Helfer sein. Aber ich denke, es ist viel besser, wenn wir gemeinsam aufeinander aufpassen: Der deutsche Nachbar, der deutsche Freund, die afghanische Familie, alle gemeinsam."

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Kerzen und Blumen nahe der Shisha-Bar "Midnight", in der am Mittwochabend mehrere Menschen erschossen wurdenBild: DW/H. Kaschel

Mit Blick auf die Aufklärung der Bluttat hat Yilmaz "vollstes Vertrauen" in die Behörden, die Bundesregierung, die deutsche Rechtsprechung. Wie viele andere in den vergangenen zwei Tagen beschwört er den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Spätestens nach dem Anschlag in Hanau müsse jedem klar sein, wie ernst die Lage sei, dass gehandelt werden müsse. Jetzt schlage die Stunde der Solidarität.

"Man merkt schon, dass die Menschen versuchen, uns auseinanderzutreiben, aber das lassen wir nicht zu. Wir sind nach wie vor weltoffen, wir sind nach wie vor Bürger dieses Landes. Wir sind alle Ferhats, wir sind alle wie die anderen. Wir stehen hier und wir werden auch weiterhin gemeinsam miteinander zusammenleben. Friedvoll."