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Insekten: Bienen, Schmetterlinge und Käfer brauchen Freunde

12. August 2020

Insekten gibt es immer weniger. Insektenzählungen sollen das dokumentieren. Naturschützer und Politiker wollen mit Aufklärung, Gesetzen und Geld das ändern.

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Mücke liegt tot auf dem Boden
Bild: picture-alliance/dpa/P. Pleul

"Ein großes Ochsenauge", ruft Jörg Siemers voller Begeisterung. Und einen Wimpernschlag später: "Ein männlicher Hauhechelbläuling." Auf der Streuobstwiese des NABU (Naturschutzbund Deutschland) in Kölner Norden hat Siemers mit bloßem Auge schnell unterschiedliche Schmetterlinge ausgemacht. Abseits landwirtschaftlich genutzter Felder, auf Sträuchern, Blüten und Gräsern der Magerrasen-Flächen tummeln sich seltene Arten. 

Schmetterlingsfan Siemers steckt ein imaginäres Zehn-Meter-Feld ab und drückt auf die Stoppuhr. Ab jetzt werden dort die Insekten-Arten gezählt, die der NABU vorgegeben hat: Dieses Mal geht es vorrangig um acht Arten, doch andere Insekten können auch gemeldet werden.

Ein roter heimischer Siebenpunkt-Marienkäfer läuft auf dem Mittelfinger eines Insektenzählers, der außerdem einen Stift und ein Plastikdöschen in der rechten Hand hält. Die Aktion heißt "Insektensommer" und wird vom NABU veranstaltet.
Siebenpunkt-Marienkäfer. Die heimische Art wird zunehmend vom größeren invasiven Asiatischen Marienkäfer verdrängt Bild: DW/K. Jäger

Als Vorlage dient Laien ein farbiger Vordruck. Per App "Insektenwelt" oder Naturgucker.de können die Teilnehmer ihre Ergebnisse melden. "Mit relativ wenigen Arten ist das so überschaubar, dass auch Anfänger schnell Erfolgserlebnisse haben", erklärt die NABU-Verantwortliche Daniela Franzisi den "Insektensommer"

Eine Stunde Insekten zählen - bei 38 Grad

Erfolgserlebnisse haben die NABU-Beobachter reichlich: Die Hitze scheint den Viechern nichts auszumachen. Siemers inspiziert geduldig Grashalme und Blätter. 

Eine Weißpunkt-Graseule hängt kopfüber an einem dünnen Gashalm. "Ein Weibchen, empfängnisbereit", urteilt Siemers freudig. Seit fünf Jahren kümmert er sich intensiv und ehrenamtlich um Schmetterlinge: "Man zählt, was man kennt." Siemers kennt sich gut mit den filigranen Fliegern aus und macht viele Kreuze auf seiner Liste.

"Insekten sind für uns Menschen überlebenswichtig und Ökosystem-relevant", betont NABU-Sprecherin Franzisi gegenüber der DW. 

Ein beige-braunes Weißpunkt-Graseulen-Weibchen hängt mit dem Kopf und dem Rücken nach unten an einem trockenen Grashalm. Dies ist die typische Pose eines paarungsbereiten weiblichen Schmetterlings.
Zur Paarung bereit: Ein Weißpunkt-Graseulen-Weibchen wartet hängend auf ein williges MännchenBild: DW/K. Jäger
Die Infografik zeigt die grobe Unterteilung der ca 34.280 Insektenarten in Deutschland. Am meisten vertreten sind Zweiflügler vor Hautflügler. An dritter Stelle stehen Käfer vor Schmetterlingen. Bedroht sind Köcherfliegen und Fransenflügler.

Menschen brauchen Insekten 

Theoretisch gibt es in Deutschland 34280 Insektenarten. Sie machen 70 Prozent aller Tierarten aus. Viele Arten sind unersetzlich zur Bestäubung von Pflanzen, andere zersetzen Exkremente, Aas, Totholz. Sie übernehmen die biologische Schädlingskontrolle, die Gewässerreinigung, und helfen bei der Erhaltung der Bodenfruchtbarkeit. Sie fressen und werden gefressen. Fehlen Insekten, verändert das zum Beispiel auch die Produktion unserer Nahrungsmittel. Die Menschen müssten etwa Blüten mühsam von Hand bestäuben, was in China bereits praktiziert wird. 

Derweil kauert Ulla Blumenkamp konzentriert im hohen Gras unweit der dröhnenden Autobahn. Behutsam sammelt sie einzelne Exemplare kurzzeitig in einer durchsichtigen Kunststoffdose mit Deckel, um sie besser bestimmen zu können: "Ich kenne mich mit den einzelnen Arten nicht so gut aus." Wichtig ist ihr: "Genau hinsehen, einen Blick für die Tierchen bekommen und bei Bedarf um Rat fragen." 

Jörg Siemers, Leiter des Arbeitskreises Insekten beim NABU Köln und Ulla Blumenkamp haben Insekten gezählt, um den Bestand auf der Obstwiese in Köln-Bocklemünd zu ermitteln. Blumenkamp hält Siemers ein Plastikdöschen entgegen, in dem sie vorübergehend Insekten zur Bestimmung ihrer Art gefangen hat.
Mit Freude ehrenamtlich im Einsatz für die Natur: Jörg Siemers und Ulla BlumenkampBild: DW/K. Jäger

Die Stunde ist schnell vergangen. Jörg Siemers hat auch Exemplare fotografiert, die er zuhause noch genau bestimmen und archivieren will. Bei der "Nacharbeit" entpuppt sich die als weiblich eingestufte Weißpunkt-Graseule als Männchen.

Zehn Arten hat Ulla Blumenkamp erkannt. Sie ist zufrieden: "Wenn man sich auf einfach zu bestimmende Arten konzentriert, ist man draußen, schaut hin und entwickelt ein Gespür für die Natur."

Die Larve eines heimischen Siebenpunkt-Marienkäfers krabbelt über eine weiße Unterlage. Eine Hand hält ein grünes Blatt, worauf die wie ein länglicher Käfer aussehende Larve zurück in die Natur transportiert werden soll.
Noch nicht so niedlich wie nach der Entpuppung: die Larve eines heimischen Siebenpunkt-MarienkäfersBild: DW/K. Jäger

Migranten verdrängen heimische Käfer   

Im Naturschutzgebiet Dünstekoven haben sich Peter Meyer und Evelyn Steppacher zur Beobachtung getroffen. Sie bezeichnen sich selbst als "Hardcore-Naturschützer", setzen sich seit ihrer Kindheit kompromisslos für Natur und Artenschutz ein, Meyer als Generalist. Steppachers Leidenschaft gilt Pflanzen, Libellen und 70 heimische Marienkäferarten. Darum beobachtet sie mit Sorge, dass die Siebenpunkt-Käfer zunehmend von der invasiven asiatischen Konkurrenz verdrängt  werden.

NABU-Naturschützer Peter Meyer und Evelyn Steppacher sitzen an einem Tisch im Naturschutzgebiet in Swisttal-Dünstekoven. In der ehemaligen Kiesgrube betreut der NABU seltene Arten wie Pflanzen, Insekten, Vögel, Amphibien.
Selbsternannte "Hardcore-Naturschützer" Peter Meyer und Evelyn Steppacher: "Wir setzen uns kompromisslos für den Schutz der Arten und die biologische Vielfalt ein."Bild: DW/K. Jäger

Citizen Science: Auch für Insekten?

Blumenkamp, Siemers, Steppenacher und Meyer gehören zu den Bürgerwissenschaftlern im Naturschutz, die aufgrund ihres angeeigneten Wissens Beobachtungen machen, die Erkenntnisse an Verbände oder Institute weiterleiten und die Natur vor Ort fördern. "Citizen Science kann zu hervorragenden Ergebnissen führen, wie Erfahrungen in der Vogelkunde zeigen", meint der Freilandökologe Jürgen Esser: "Bei Insekten ist es aber oft sehr schwierig bis unmöglich zu entscheiden, ob die Artbestimmung durch den Laien korrekt ist oder nicht. Selbst bei vermeidlich einfachen Gruppen wie Hummeln kann die Fehlerquote sehr hoch sein."

Dennoch ist die Arbeit der Freiwilligen nicht zu unterschätzen, gibt Esser zu. Denn in Deutschland fehlt ein wissenschaftliches Monitoringprogramm, bei dem großflächig, systematisch, kontinuierlich und repräsentativ Beobachtungsdaten zur biologischen Vielfalt erhoben werden.

So beteiligen sich ehrenamtliche Entomologen am Tagfalter-Monitoring des Helmholtz-Instituts für Umweltforschung. Einer davon: NABU-Mitglied Karl-Heinz Jelinek. "In Deutschland gibt es fast 3700 Schmetterlingsarten, in unserer Gegend 195 Tagfalterarten. Die NABU-Zählung kann also keinen wissenschaftlichen Anspruch erheben."

Eine Gemeine Heidelibelle mit lachsfarbenem Rücken- und Schwanzteil und feinästrigen Doppelflügeln sitzt auf einem Grashalm im Naturschutzgebiet Swisttal-Dünstekoven.
Klein, leicht, flüchtig, unscheinbar und gar nicht so einfach zu bestimmen: Gemeine Heidelibelle aus der Familie der Segellibellen. Diese wiederum zählen zu den GroßlibellenBild: DW/K. Jäger

Bildungsnotstand in Sachen Natur

Jörg Liesendahl treibt ein anderes Problem um: "Die letzten zwei Generationen sind naturfern aufgewachsen. Es besteht großer Fortbildungsbedarf", beschreibt Liesendahl den allgemeinen Bildungsnotstand in Sachen Natur. Der Biologe leitet die Natur-Schule für Umweltbildung in Remscheid. "Unkenntnis und Halbwissen führen dazu, dass Kinder und später Erwachsene persönliche Vorbehalte, manchmal sogar Panik haben vor Raupen, Libellen, Bienen, Mücken", so Liesendahl.

Er erklärt Besuchern die Bedeutung der kleinen Lebewesen als Helfer der Ökosysteme und die vielfältigen Probleme des Insektenrückgangs. "Viele würden etwas für Insekten tun, wissen aber nichts über die Zusammenhänge".

 

Insektensammler ohne Berührungsängste

Schieflage bei Verteilung von Forschungsgeldern?   

Naturschutzorganisationen versuchen, dem Unwissen entgegenzuwirken: Es geht um spielerischen Wissenstransfer, darum, Menschen für die Natur und die Lebewesen zu sensibilisieren, ihre Werte und Schutzbedürftigkeit zu erkennen und die bedrohte Artenvielfalt zu erhalten.  

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"Wissenschaft und Ökonomie interessieren sich meist nur für spezielle Arten im Zusammenhang mit biologischer Schädlingsbekämpfung"; kritisiert Daniela Franzisi. Der Biologe Esser bemängelt: "Man gibt Milliarden für Teilchenphysik und Weltraumforschung aus, im Vergleich dazu für die Biodiversitätsforschung praktisch nichts. Trotz Insektensterbens werden die Daten meist ehrenamtlich generiert." Und das ist wahrlich nicht einfach.

Deutschland: 75 Prozent weniger Insekten

Der Entomologische Verein in Krefeld verfügt seit 1905 über eine einmalige Sammlung an Insekten - und eine unschätzbare Expertise: So haben ehrenamtliche Insektenkundler 27 Jahre lang den Bestand in 62 Schutzgebieten Deutschlands erhoben und einen Bestandseinbruch von 75 Prozent nachgewiesen. Die "Krefelder Studie" fand in internationalen Kreisen und auch in der Politik Beachtung.

Pestizide verantwortlich für Insektensterben 

Das Dilemma begann mit der auf Ertragssteigerung ausgerichteten Intensivierung der Landwirtschaft - inklusive Monokulturen und Massentierhaltung. Eine Vielzahl von heimischen Blühpflanzen und Beikräutern, von denen sich die Insekten ernähren, stören den Ernteerfolg. Sie werden durch Pestizide vernichtet. Hohe Nährstoffeinträge durch Gülle und mineralische Dünger haben zur Eutrophierung von Böden und Gewässern geführt. Zudem werden Insekten durch den Klimawandel, die Versiegelung der Landschaft, Urbanisierung und Lichtverschmutzung beeinträchtigt und dezimiert. Und mit den Insekten verschwinden die Vögel.

Ein Drittel weniger Insektenarten als noch vor zehn Jahren fanden Forscher der TU München bei einer aktuellen Studie über Insekten- und Artenschwund. Dazu sammelten sie auf 300 Flächen über eine Million Insekten. Viele der fast 2.700 untersuchten Arten waren überall rückläufig: auf Ackerland, Schafweiden und Wiesen, die drei bis viermal jährlich gemäht und gedüngt werden, ebenso wie in forstwirtschaftlich geprägten Nadelwäldern und sogar auf ungenutzten Wäldern in Schutzgebieten.

Umweltministerin will Insekten schützen

Insekten sterben und eine grundsätzliche Trendwende zu einer schützenden Wirtschaftsweise gibt es nicht. Die meisten Landwirte, Politiker und Unternehmer handeln wie bisher. Eine Ausnahme ist das Bundesumweltministerium. Mit einem Aktionsprogrammwill es das Insektensterben stoppen und ein größeres gesellschaftliches Bewusstsein für die biologische Vielfalt erreichen. 

Jährlich will die Bundesregierung nun 100 Millionen Euro in die Insektenforschung ausgeben und geplant ist ein Insektenschutzgesetz.  "Alles, was Insekten hilft, wollen wir fördern und alles, was ihnen schadet, werden wir vermeiden", sagt Umweltministerin Svenja Schulze (SPD).

Die Artenschützer Peter Meyer und Evelyn Steppacher haben damit längst begonnen. Die von ihnen betreute Kiesgrube zeichnet sich durch eine große Anzahl verschiedener und seltener Biotope aus: Bedrohte Amphibien, Insekten, Igel, Feldhasen, Vögel und Wildpflanzen finden hier ideale Lebensräume. Ihr Nachwuchs wird teilweise als Spenderpopulation in andere Lebensräume gebracht - zur Vermehrung. 

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