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Russland lässt ersten Corona-Impfstoff zu

11. August 2020

In einem beschleunigten Verfahren hat Russland die entscheidende Sicherheitsüberprüfung einfach übersprungen. Experten halten dies für äußerst riskant.

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Zwei Hände in Gummihandschuhen halten eine Injektionsspritze, drei Finger berühren dabei einen Unterarm
Bild: picture-alliance/dpa/C. Schmidt

Weltweit suchen mehr als 170 Projekte unter Hochdruck nach einen geeigneten Impfstoff gegen das Coronavirus SARS-CoV-2. Laut einer WHO-Liste aus dem Juli haben bereits sechs Impfstoff-Kandidaten die entscheidende Phase-III-Studien erreicht oder sind bereits mitten drin.

Aber selbst wenn alle Verfahren extrem beschleunigt werden, wurde mit einem neuen Impfstoff frühestens Ende des Jahres, eher Anfang 2021 gerechnet - Russland hat jetzt alle überrascht.

Was plant Russland?

Trotz zahlreicher Sicherheitsbedenken hat Russland in einem beschleunigten Zulassungsverfahren die entscheidende Sicherheitsüberprüfung einfach übersprungen und einen ersten Impfstoff zugelassen.

Präsident Wladimir Putin sagte im Schaltgespräch mit der Regierung (siehe im Video unten) zum zugelassenen Impfstoff: "Ich weiß, dass er ziemlich gut wirkt, er sorgt für eine beständige Immunität und, ich wiederhole, er hat alle notwendigen Tests durchlaufen." Auch seine Tochter habe sich impfen lassen. 

Um ihr Vertrauen in den neuentwickelten Impfstoff zu unterstreichen, hatten sich neben den 38 Testpersonen auch einige Offizielle und Funktionäre impfen lassen - darunter der Impfstoff-Entwickler Alexander Ginzburg. 

Unmittelbar nach Zulassung will Russland den Impfstoff an einer größeren Gruppe Menschen testen. Laut russischem Gesundheitsministerium sollen die Tests an rund 800 Personen die Ergebnisse der ersten Studien bestätigen.

Normalerweise sieht das Zulassungs-Prozedere vor, dass die Impfstoff-Kandidaten erst nach einer bestandenen Phase-III-Studie zugelassen werden. In dieser entscheidenden Testphase wird der Impfstoff an mehreren tausend Probanden getestet, denn nur so können auch seltenere Nebenwirkungen bemerkt werden. Treten hier bei einigen wenigen schwere Nebenwirkungen auf, könnte dies hochgerechnet auf die Gesamtbevölkerung Tausende treffen. 

Vor einem Corona-Testzentrum in Russland unterhalten sich ein Mann mit Nase-Mundschutz und eine Frau, die ebenfalls einen Nase-Mundschutz trägt und sich an einem Rollator festhält
Anfang 2021 sollen bereits "mehrere Millionen" Impf-Dosen pro Monat zur Verfügung stehen. Bild: picture-alliance/dpa/Sputnik/A. Maishev

Ab Oktober sollen laut russischem Gesundheitsministrium zunächst Ärzte und Lehrer geimpft werden, dann schrittweise der Rest der Bevölkerung. Anfang des Jahres sollen laut Industrieministerium bereits "mehrere Millionen" Dosen pro Monat zur Verfügung stehen.

Nach offiziellen Zahlen verzeichnet Russland aktuell knapp 900.000 Corona-Infizierte, 15.000 Russen sind demnach an oder mit COVID-19 verstorben - im Verhältnis bleibt die Sterblichkeitsrate also auffällig niedrig.

Welchen Impfstoff hat Russland zugelassen?

Der Impfstoff Gam-COVID-Vac Lyo ist ein sogenannter Vektor-Impfstoff, der am Moskauer Gamaleja-Institut für Epidemiologie  entwickelt wurde.

Für solch eine Vektor-Impfung wurden die gefährlichen Krankheitsgene aus den Viren entfernt, übrig bleibt nur eine Art Viren-Transport-Vehikel, das Mediziner als "viralen Vektor" bezeichnen.

Diese harmlosen Vektoren enthalten dann zusätzlich das Erbgut mit der entsprechenden Bauanleitung: Wenn der Impfstoff gegen Pocken gerichtet sein soll, wird dem Vektorvirusgenom ein Pocken-Gen zugefügt, bei SARS-CoV-2-Impfstoffen entsprechend ein Gen des Coronavirus.

Der Körper des Geimpften erkennt das eingeschleuste Erbgut als Fremdkörper und bildet Antikörper und spezifische T-Zellen gegen dieses Antigen. Das Impf-Antigen wird also von den Zellen des Geimpften selbst produziert.

Werden bereits bekannte Vektoren verwendet, so wie jetzt in Russland, spart dies Zeit, da ihre Sicherheit bereits getestet wurde. Trotzdem kann es bei Vektor-Impfungen immer auch zu Nebenwirkungen kommen, wenn etwa das Immunsystem auch die Vektoren angreift.

Ist der russische Impfstoff sicher?

Die intransparente Informationspolitik Russlands im Umgang mit dem Corona-Virus hat zumindest im Ausland nicht unbedingt großes Vertrauen aufgebaut.

Verlässliche Forschungsergebnisse der klinischen Tests an Menschen wurden nicht veröffentlicht. Bekannt ist nur, dass der Impfstoff seit Juni an 38 Personen getestet wurde und dass es offiziell keinerlei Nebenwirkungen gibt. Was erstaunlich wäre, da eigentlich bei jeder Impfung irgendwelche Nebenwirkungen auftreten, auch wenn es nur Schwellungen an der Einstichstelle sind.

Ob der Impfstoff auch zum Beispiel bei Vorerkrankungen verträglich ist und ob er tatsächlich auch wirksam ist, kann ohne umfassende Phase-III-Studie nicht abschließend geklärt werden. 

Infografik Impfstoffentwicklung DE

Wie steht die russische Öffentlichkeit zu dem beschleunigten Verfahren? 

Der russische Verband der Organisationen für klinische Studien hat am 10. August das Gesundheitsministerium aufgerufen, die Zulassung zu verschieben. In dem Appell heißt es: "Wir haben Verständnis für den Wunsch des Entwicklers und der Behörden, das im Mai gegebene Versprechen einzuhalten und die Schaffung eines Impfstoffs zu verkünden (…) Doch eine beschleunigte Zulassung würde Russland nicht mehr zum Anführer in diesem Wettlauf (um den Impfstoff) machen, sondern die Endverbraucher, russische Bürger, unnötig in Gefahr bringen." 

Auch der Virologe Alexander Tschepurnow warnte in einem Interview für das Webportal "Podjem" vor einem falsch zusammengesetzten Impfstoff: "Solange ich nicht normale Studien und wissenschaftliche Publikationen sehe, in denen steht, wie der Impfstoff erforscht wurde, welches Niveau der Neutralisierung erreicht wird, vor welchen Virus-Mengen er schützt und vor allem, ob er nicht zu einer Verstärkung der Infektion in Abhängigkeit von Antikörpern führt, sollte man solch einen Impfstoff nicht herstellen", sagte Tschepurnow.

Welcher Impfstoff macht das Rennen?

Die Kontrollbehörde "Roszdravnadzor" wies die Kritik und den Appell der Forschenden umgehend zurück. Die Kritiker seien offenbar schlecht informiert. Auch der Chefepidemiologe des russischen Gesundheitsministeriums, Nikolai Briko, sagte der Nachrichtenagentur Interfax: "Ich sehe keinen Anlass für [eine] Verzögerung mit der Zulassung. Es wird noch die Testphase III geben. Wir haben jetzt kein Wundermittel, das die Krankheit verhindern oder heilen könnte. Es ist wichtig, das zu nutzen, was die Menschen schützen kann, die ein erhöhtes Infektions-Risiko haben."  

Wie reagieren ausländische Experten auf die schnelle Zulassung?

Die Befürchtungen sind groß, dass Russland beim beschleunigten Zulassungsverfahren ein zu hohes Risiko eingeht.

Entsprechend hatte unmittelbar vor der Zulassung auch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) Russland aufgefordert, sich an die festgelegten Richtlinien für die Produktion sicherer und wirksamer Medikamente zu halten. "Jeder Impfstoff sollte natürlich alle verschiedenen Versuche und Tests durchlaufen, bevor er für die Markteinführung zugelassen wird", sagte WHO-Sprecher Christian Lindmeier am Dienstag in Genf.     

Es bestehe ein Unterschied darin, ob tatsächlich ein funktionierender Impfstoff gefunden wurde, der durch alle vorgeschriebenen Testphasen gelaufen ist, oder ob nur die Vermutung da sei, einen solchen Impfstoff gefunden zu haben, so Lindmeier. 

Unverständnis löste die schnelle Zulassung auch bei britischen Experten aus. Sollte der Impfstoff doch schwere Nebenwirkungen auslösen oder sich als unwirksam erweisen, könnte dies nicht nur die russische Bevölkerung hart treffen, so Prof. Danny Altmann, Professor für Immunologie am Imperial College London: "Der Kollateralschaden durch die Freigabe eines Impfstoffs, der weniger als sicher und wirksam ist, würde unsere derzeitigen Probleme unüberwindlich verschärfen. Ich hoffe, dass diese Kriterien eingehalten worden sind. Wir stecken hier alle gemeinsam drin".

Ein Scheitern könnte auch die Vorbehalte gegen andere Impfstoffe vergrößern und generell die Akzeptanz einer Impfung gegen SARS Cov-2 massiv schädigen, so Prof. Francois Balloux, der Direktor des UCL Genetics Institute: "Dies ist eine rücksichtslose und törichte Entscheidung. Eine Massenimpfung mit einem unsachgemäß getesteten Impfstoff ist unethisch. Jedes Problem mit der russischen Impfkampagne wäre katastrophal, sowohl wegen ihrer negativen Auswirkungen auf die Gesundheit, als auch, weil es die Akzeptanz von Impfstoffen in der Bevölkerung weiter zurückwerfen würde", so der Direktor des UCL Genetics Institute.

DW Mitarbeiterportrait | Alexander Freund
Alexander Freund Wissenschaftsredakteur mit Fokus auf Archäologie, Geschichte und Gesundheit@AlexxxFreund