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Politik

Wählen schon mit 16?

4. August 2020

Politiker von SPD, Grünen und Linkspartei fordern, das Wahlalter bei Bundestagswahlen von 18 auf 16 herabzusetzen. Historikern kommt das bekannt vor: Der Aufbau der Demokratie war immer auch ein Kampf ums Wahlalter.

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Jugendliche am «Wahl-O-Mat» Du hast die Wahl
Bild: picture-alliance/dpa/C. Charisius

"Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus", heißt es in Artikel 20 des Grundgesetzes. Und das geschieht vor allem durch Wahlen. Doch wer darf eigentlich wählen? Das Wahlalter ist dabei ein politischer Machtfaktor, um den in der Geschichte immer wieder gerungen wurde.

Der Politikwissenschaftler Arndt Leininger von der Freien Universität Berlin, Mitautor der Studie "Wählen mit 16?" der Otto-Brenner-Stiftung, sagt der Deutschen Welle: "Wer wählen darf (…), ist eine Kernfrage der Demokratie. Sie wurde und wird historisch immer wieder neu ausgehandelt." So wie früher um das Frauenwahlrecht gekämpft wurde, sei die Forderung jetzt "vor allem eine Ausweitung des Wahlrechts auf junge Menschen (…), aber auch die Ausweitung des Wahlrechts auf Menschen, die nicht die Staatsbürgerschaft innehaben".

Wahlberechtigt erst mit 25 - und nur als Mann

Als das Deutsche Reich 1871 gegründet wurde, gab es zwar bereits ein allgemeines Wahlrecht. Trotzdem konnten faktisch nur knapp 20 Prozent der Gesamtbevölkerung wählen. Das lag vor allem daran, dass Frauen noch nicht wählen durften, aber auch am hohen Wahlalter von 25 Jahren. Da damals ein Drittel der Bevölkerung jünger als 15 Jahre war und die Lebenserwartung weniger als 40 Jahre betrug, schloss man allein durch das Wahlalter große Teile der (männlichen) Bevölkerung von dieser entscheidenden politischen Teilhabe aus.

Erst die Weimarer Reichsverfassung von 1919 brachte wesentliche Verbesserungen. Nicht nur das Frauenwahlrecht wurde eingeführt, das aktive Wahlalter wurde auch um fünf Jahre auf 20 gesenkt. Allein mit dieser Absenkung durften Millionen Deutsche mehr wählen als vorher.

Berlin Wahlplakat Kommunisten 1928
Wahlkampf 1928: Nach dem Ersten Weltkrieg durften viel mehr Deutsche wählen - nicht nur wegen des FrauenwahlrechtsBild: Getty Images/FPG

Übrigens zeigt die Geschichte, dass es mit dem Wahlalter nicht immer weiter nach unten ging. Denn nach dem Zweiten Weltkrieg wurde für das aktive Wahlrecht die Altersgrenze wieder um ein Jahr auf 21 heraufgesetzt. Und wenn man sich zum Bundestagsabgeordneten wählen lassen wollte, musste man noch bis 1970 auf seinen 25. Geburtstag warten.

"Mehr Demokratie wagen" mit 18

Die Sozialdemokraten werben heute für eine Absenkung auf 16 Jahre auch mit Verweis auf Willy Brandt. Der SPD-Kanzler war 1969 mit dem Slogan "Mehr Demokratie wagen" angetreten. Aber nicht nur seine SPD war für eine Absenkung des Wahlalters auf damals 18 Jahre. Auch eine Mehrheit beim damaligen Juniorpartner CDU stimmte zu. So konnte 1970 das Grundgesetz ohne Gegenstimme geändert werden.

Das Mindestalter beim passiven Wahlrecht, das Wählbarkeitsalter, wurde dagegen indirekt geändert: 1970 wurde es an den Zeitpunkt der Volljährigkeit geknüpft. Die erreichte man damals mit 21 Jahren. Fünf Jahre später wurde das Erreichen der Volljährigkeit auf 18 Jahre gesenkt, sodass seitdem das Mindestalter beim aktiven und beim passiven Wahlrecht zusammenfallen.

SPD-Parteitag Willy Brandt 1972
SPD-Kanzler Willy Brandt, hier 1972, warb für eine Senkung des Wahlalters auf 18 - und profitierte später politisch davonBild: picture-alliance/K. Rose

Bei der Bundestagswahl 1972 durften bereits die knapp fünf Millionen 18- und 19-Jährigen erstmals wählen. Durch die Rekord-Wahlbeteiligung von 91,1 Prozent fühlten sich diejenigen bestätigt, die sich von einer Absenkung des Wahlalters einen mobilisierenden Effekt versprochen hatten.

Auf Bundesebene ist es bis heute bei 18 Jahren geblieben. Einige Länder und viele Gemeinden senkten das Wahlalter dann weiter ab. Von den Ländern machte 1995 Niedersachsen den Anfang, wo damals das Wahlalter bei Kommunalwahlen auf 16 verringert wurde. Weitere Länder folgten. Bremen setzte 2009 das Wahlalter für Landtagswahlen auf 16 herab, 2001 dann Brandenburg, 2013 Hamburg und Schleswig-Holstein. Das Wählbarkeitsalter liegt in den Ländern ebenfalls bei 18 Jahren. Zuletzt hat Hessen es 2018 von 21 auf 18 gesenkt.

Der Eigennutz der Parteien

Dass vor allem SPD, Grüne und Linkspartei jetzt eine Absenkung auf Bundesebene auf 16 fordern, geschieht ebenso wenig wie zu Brandts oder Bismarcks Zeiten aus schierem Fortschrittsglauben. "Wahlrechtsfragen sind immer auch Machtfragen", sagt der Demokratieforscher Robert Vehrkamp von der Bertelsmann-Stiftung der Deutschen Welle. Parteien gingen damals wie heute "nach dem vermeintlichen Eigennutz" vor. Daher seien diejenigen Parteien für eine Absenkung, "die an der Wahlurne voraussichtlich davon profitieren würden. Dagegen ist vor allem die Union, die derzeit von den jüngsten Altersgruppen eher unterdurchschnittlich gewählt wird." Ob das Kalkül, dass vor allem Grüne, SPD und Linkspartei dann auch von den Stimmen der Jungwähler profitieren werden, aufgeht, hält Vehrkamp jedoch für unsicher. Das Wahlverhalten der Jüngeren sei "volatil".

Demonstration vor Koalitionsgipfel
Fridays-for-Future-Demonstration im Juni in Berlin: Die Jugend ist - wieder - politisch interessiert und engagiertBild: picture-alliance/dpa/K. Nietfeld

Doch interessiert sich die Jugend überhaupt für Politik? Arndt Leininger zitiert hier die jüngste Shell-Studie 2019, wonach sich das politische Interesse von Jugendlichen "weiter stabilisiert" hat. Danach sehen sich 8 Prozent der Jugendlichen als stark interessiert, weitere 33 Prozent als interessiert. Die Ergebnisse liegen zumindest deutlich über denen von 2002, 2006 und 2010.

Der Demokratieforscher Robert Vehrkamp bestätigt gestiegenes politisches Interesse und fügt hinzu, das könne man durch das Wahlrecht noch fördern. "Wählen setzt politisches Interesse nicht nur voraus, sondern schafft es auch. Das Wahlrecht ist ein Verstärker und Multiplikator für politisches Interesse."

Wenige Jungwähler, wenig Einfluss

Zurück zum Einfluss der Jungwähler auf die Politik. 1871 hatte Deutschland sehr viele Junge und wenige Alte. Hätte man damals mit 16 statt mit 25 wählen dürfen, hätte das die politische Landschaft vermutlich massiv verändert. Heute dagegen leben in Deutschland viele Alte und wenige Junge. Wahlberechtigte 16- und 17-jährige Jugendliche würden nur rund anderthalb Millionen Wähler zusätzlich bedeuten. Zum Vergleich: Bei der Bundestagswahl 2017 duften fast 13 Millionen Menschen über 70 ihre Stimme abgeben. Der Einfluss der Jungen wäre also begrenzt.

CDU-Bundesparteitag in Leipzig
Die CDU ist zögerlich - vielleicht weil sie von der Jugend kaum Stimmengewinne erhofft? (Archivbild)Bild: Reuters/M. Rietschel

Was die Aussichten eines Wahlrechts mit 16 betrifft, hofft der Befürworter Robert Vehrkamp auf eine Wiederholung der Situation von 1970. "Eine Mehrheit der Wähler hat damals wie heute die Absenkung des Wahlalters abgelehnt. Aber die Akzeptanz ist dann der politischen Entscheidung sehr schnell gefolgt. Schon wenige Jahre später war das heutige Wahlalter 18 gesellschaftlich breit akzeptiert und anerkannt." Das einzige, was jetzt noch fehle, "ist der Mut der politischen Akteure, voranzugehen. In den 70er Jahren hatten die Parteien die Kraft dazu und sind gut damit gefahren. Daran sollten sich die heutigen Entscheider in den Parteien ein Beispiel nehmen."

Christoph Hasselbach
Christoph Hasselbach Autor, Auslandskorrespondent und Kommentator für internationale Politik